Zufluchtstelle

25 Jahre Zufluchtsstelle für Mädchen bei IMMA

28. November 2013 - Zufluchtstelle

1988 eröffnete IMMA die Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen. Was sich seit dem in der Zufluchtsstelle verändert hat und wie der Alltag heute aussieht, erklären Carmen Jörg, Leiterin der Einrichtung und Tina Pirman, dienstälteste Mitarbeiterin.


Jedes Jahr kommen zwischen 80 und 90 Mädchen und junge Frauen zu Ihnen. Was haben sie erlebt?

Pirman:
In erster Linie haben die Mädchen in ihren Familien andauernden Streit, starke Vernachlässigung, sexuelle Grenzverletzungen sowie körperliche und psychische Gewalt erlebt.


Jörg:
Es kommen auch Mädchen und junge Frauen zu uns, die von Zwangsheirat bedroht oder betroffen sind.

Wie finden die Mädchen den Weg in die Zufluchtsstelle, sie arbeiten ja anonym?

Jörg:
Sie können sich telefonisch an uns wenden. Die Krisennummer ist in München gut bekannt. Wir schicken außerdem regelmäßig Informationsflyer an die Schulen. Online können sich Mädchen oder Angehörige auf der Homepage von IMMA und bei Facebook informieren. Die Aufnahmeabklärung erfolgt telefonisch.


Wie viele Mädchen melden sich bei Ihnen selber an?


Pirman:
Bis 2010 haben sich die Mädchen mehrheitlich selbst an uns gewandt. Dann hat sich das Verhältnis von Selbst- und Fremdmelderinnen gedreht: Heute kommen 55 Prozent der Mädchen durch das Jugendamt, die Polizei oder andere soziale Einrichtungen zu uns.

Wie alt sind die Mädchen und jungen Frauen?


Pirman:
Grundsätzlich nehmen wir Mädchen im Alter zwischen 13 und 20 Jahren auf. Der derzeitige Altersschwerpunkt liegt zwischen 14 und 16 Jahren. Das hängt damit zusammen, dass das Stadtjugendamt die Hilfen für junge Volljährige stark begrenzt hat. Bis 2010 hatten wir in der Zufluchtsstelle rund ein Viertel junge volljährige Mädchen, heute sind es etwa zehn Prozent.


Jörg:
Wir beobachten, dass Mädchen viel zu spät in die Kinder- Jugendhilfe kommen. Ihre familiären Konflikte reichen zeitlich oft bis in die Kindheit zurück. In der Pubertät spitzten sie sich dann krisenhaft zu und die Mädchen suchen nur noch einen Weg raus aus der Familie.

Jungs erhalten oft viel früher Zugang zu professioneller Hilfe, da sie ihre Belastungen infolge familiärer Konflikte eher nach außen tragen. In ihrem sozialen Umfeld werden sie dadurch viel früher auffällig und erhalten Hilfe.

Für viele Mädchen ist hingegen typisch, dass sie trotz familiärer Konflikte über weite Strecken in ihrer Kindheit sehr angepasst sind. Sie übernehmen zum Beispiel häufig die Elternfunktion für kleinere Geschwister, arbeiten im Haushalt mit und vermitteln zwischen den Eltern. Ihre innere Not wird deshalb von ihrem Umfeld oft gar nicht gesehen, da sie ja nicht negativ auffallen wie viele Jungs. Irgendwann wird die Spannung zwischen den familiären Anforderungen und ihren eigenen Bedürfnissen so groß, dass sie ausbrechen und zu uns kommen.


Wie lange können die Mädchen in der Zufluchtsstelle bleiben?


Jörg:
Das Spektrum reicht von einer Nacht bis zu einem halben Jahr. Durchschnittlich bleiben die Mädchen etwa fünf Wochen bei uns. Dieser Zeitraum hängt im Wesentlichen davon ab, welche individuellen Problemlagen die Mädchen haben, wie schnell sich der Fall mit allen Beteiligten insgesamt klären lässt und welche Anschlusshilfen installiert werden müssen.


Was machen Sie in dieser Zeit mit den Mädchen und jungen Frauen?


Pirman:
Wir bieten den Mädchen direkte pädagogische Arbeit und einen geschützten Rahmen, in dem sie ihr Alltagsleben aufrechterhalten können.


Sie können und sollen zum Beispiel weiterhin in ihre Schule gehen. Die Belastungen von zu Hause treten zunächst in den Hintergrund. Das erleben die Mädchen als große Entlastung und gewinnen so Raum und Zeit, um sich neu zu orientieren.


Jörg: Außerdem sprechen wir mit dem Jugendamt, den Eltern, der Schule und ÄrztInnen. Die Gespräche zielen darauf ab, die Probleme der Mädchen zu klären und für sie den bestmöglichen Lebensmittelpunkt nach der Zufluchtsstelle zu finden. In diesen Prozess beziehen wir die Mädchen natürlich ein.


Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Eltern aus?


Pirman:
Um den Schutz der Mädchen zu gewährleisten, machen wir keine persönliche Elternarbeit. Uns ist aber sehr an einer Kooperation gelegen, da sich dies zum Wohle der Mädchen auswirkt. Wir bieten deshalb einmal pro Woche durch unseren psychologischen Fachdienst ein Elterntelefon an, wo sie mit ihren Ängsten und Sorgen gehört werden. Man darf nicht unterschätzen, dass die Eltern oft über mehrere Wochen oder Monate nicht wissen, wo ihre Tochter momentan wohnt. Wir zeigen ihnen auch Unterstützungsmöglichkeiten für sie selber auf, zum Beispiel Erziehungsbeistände der Jugendämter oder Ehe- und Eltern-beratungsstellen der freien Träger.

Gab es diese kooperative Haltung zu den Eltern von Anfang an?


Pirman:
Nein, früher wurde die Zusammenarbeit mit den Eltern sehr kritisch gesehen, da die Mädchen oftmals ja gerade durch sie gefährdet waren.


Die Eltern sind zwar auch heute noch oft der Gefahrenauslöser, insgesamt ist aber das Verständnis für ihre Problemlagen gewachsen. Hinzu kommt die Überzeugung, dass es für die Mädchen besser ist, die Eltern ins Boot zu holen, denn wir Mitarbeiterinnen der Zufluchtsstelle gehen, die Eltern bleiben.

Von allen Mädchen der Zufluchtsstelle kehrt etwa die Hälfte zur Familie zurück. Warum?


Pirman:
Viele Mädchen wollen trotz der schwierigen Situation keine radikale Trennung von ihren Eltern. In der Zufluchtsstelle haben sie oft Heimweh und hegen die Hoffnung, dass sich ihre Situation nach der Zufluchtsstelle mit ihren Eltern ändert.

Wie ist gewährleistet, dass zurückkehrende Mädchen in ihren Familien sicher sind?


Jörg:
Wir nehmen in Kooperation mit dem Jugendamt eine gemeinsame Gefahreneinschätzung vor. Oft werden in den Familien mit der Rückkehr der Mädchen ambulante Erziehungshilfen installiert. So wird die Familie unterstützt und gegebenenfalls können Fachkräfte schnell reagieren.


Wohin gehen die anderen Mädchen?


Pirman:
Je nachdem, wie alt und selbständig sie sind, gehen sie in teil- oder vollstationäre Einrichtungen der Jugendhilfe. Sie leben dann zum Beispiel in betreuten Jugendwohngruppen oder in Heimen.


Frau Pirman, sie arbeiten seit 13 Jahren in der Zufluchtsstelle. Was war Ihr wichtigster beruflicher Grund, in der Zufluchtsstelle von IMMA anzufangen?


Pirman:
Ich wollte damals mit Mädchen in der stationären Jugendhilfe arbeiten. Gerade in der Zeit hatte IMMA eine Anzeige für die Zufluchtsstelle in der Zeitung geschaltet.


Hätten Sie erwartet, dass Sie so lange bleiben würden?


Pirman:
Nein, mein ursprünglicher Plan war, dass ich zwei Jahre bleibe und dann weiterschaue.


Was hat sie bis heute in der Zufluchtsstelle gehalten?


Pirman:
Die Mädchen selbst und das Team. Ich arbeite auch nach all der Zeit immer noch gerne mit Mädchen. Sie überraschen mich immer wieder. Im Team arbeiten wir Hand in Hand für die Mädchen. Deshalb gab es keinen Grund mich verändern zu wollen.


Welche Werte sind Ihnen bei Ihrer Arbeit am Wichtigsten?


Pirman:
Mir ist wichtig, dass die Mädchen Transparenz in allen Vorgängen und Entscheidungen erleben. Ich will, dass sie uns als ehrliches Gegenüber wahrnehmen und dass der Alltag und die Kommunikation auf einer herzlichen Ebene stattfinden. Ich glaube, dass die Mädchen hier spüren, dass wir alle im Team unsere Arbeit gerne machen und dass sie nicht nur eine von 90 Mädchen im Jahr sind.


Was sind die zwei größten Veränderungen in Ihrem Arbeitsalltag im Vergleich zur Anfangszeit?


Pirman:
Der Umzug in diese große helle und freundliche Wohnung war eine wichtige Veränderung, nicht nur räumlich, sondern auch für die pädagogische Arbeit. Wir haben hier mehr Möglichkeiten zur Gruppen- und Einzelbetreuung. Die erste Wohnung der Zufluchtsstelle war verwohnt und dunkel. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, dass man hier als Erstes streichen muss.

Die andere große Veränderung war ein kompletter Teamwechsel. In beiden Teams gab und gibt es eine gute fachliche Zusammenarbeit. Damit habe ich tatsächlich nicht gerechnet. Man könnte sagen, das Team verändert sich, die Kompetenz bleibt.


Wie fühlen Sie sich heute, wenn Sie zurückblicken?


Pirman:
Ich bin zufrieden und stolz, dass die Zufluchtsstelle so bekannt ist und gute Arbeit macht. Das finde ich schon toll.


Was wünschen Sie sich für Ihre künftige Arbeit?


Pirman:
Ich wünsche mir, dass sich die Zufluchtsstelle immer weiter entwickelt. Die Schutzstellen sind ein wichtiger Bereich der Jugendhilfe, weil wir schnell und unbürokratisch Mädchen unterstützen können. Ich hoffe, dass dieser Bereich weiterhin erhalten bleibt und nicht Opfer von Kürzungen in der Jugendhilfe wird.