Presseclipping

„Papa schreit, etwas rumpelt gegen die Wand“

19. November 2010

Seit 25 Jahren kümmert sich IMMA, die Initiative Münchener Mädchenarbeit, um junge Frauen in schwierigen Lebenssituationen


Süddeutsche Zeitung, 13. August 2010

Von Sven Loerzer

MÜNCHEN- Als Lena mitten in der Nacht aufwacht, hört sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. „Papa schreit, etwas rumpelt gegen die Wand“, berichtet die Neunjährige später.“ Mama weint und schreit den Papa an“. Lena zittert und fürchtet sich. “Ich weiß nicht, was ich tun soll, mein Herz klopft ganz laut. Ich stecke die Finger in die Ohren, weil ich nichts hören will.“ Aber es wird immer lauter, bis irgendwann die Tür aufgeht und die Mutter mit verheultem Gesicht ins Kinderzimmer kommt. „Sie sagt, alles in Ordnung, ich soll schlafen.“

Am nächsten Morgen ist doch nicht alles nur ein böser Traum. Die Mutter hat rote Augen, am Arm blaue flecken, aber Lena mag nicht hinsehen. Sie macht schnell das Frühstück, hilft dem Bruder beim Anziehen, „damit Mama nicht schimpft an ihm“. Streiten ist normal, beruhigt sich Lena, eigentlich streitet sie ja auch immer wieder mal mit ihren Freundinnen. Lena will lieber niemand davon erzählen, denn der Vater hat sie gewarnt: „Wenn ich sage, kommt das Jugendamt und bringt uns ins Heim.“

Lenas Erfahrungen mit ihren Eltern, fassen Experten wie die Psychologin Sabine Wieninger unter dem Stichwort „häusliche Gewalt“ zusammen. Was in den Wohnungen hinter verschlossenen Türen geschieht, war lange Zeit kein Thema, galt allenfalls als Unterschichtenproblem. Doch dass Kinder erleben müssen, wie sich ihre Eltern gewalttätig begegnen, komme in Familien aller Schichten vor, sagt Wieninger, Fachleiterin bei der IMMA. Wenn die Eltern in ihren Konflikten gefangen sind, übernehmen die Mädchen die Rolle, sich um Geschwister zu kümmern, die Familie zusammen zu halten. „ Dabei stellen die Mädchen ihre eigenen Bedürfnisse zurück.“ Weil sich die Mädchen in „Familienpflichten“ stürzen, vernachlässigen sie oft sich selbst.

Bei Lena zeigt sich das deutlich. Sie wirkt in der Schule unaufmerksam. Sie muss daran denken, „wie die Mama ausschaut hat und wie böse Papa war. Da kann ich gar nicht aufpassen, was die Lehrerin sagt und das ist so peinlich, wenn sie mich aufruft.“ Angst und Unsicherheit erfassen die Neunjährige. „Vielleicht muss ich doch irgendwas tun. Aber ich machen sicher wieder alles falsch und das mach Papa wütend und es geht wieder von vorne los.“ Allein in dieser Situation gefangen zu sein, mit niemand darüber reden zu können, das wirkt sich ungünstig auf die Entwicklung aus. „Die Bandbreite reicht von Leistungsabfall und Konzentrationsstörungen bis hin zu tiefgreifenden Versicherung und Störungen“. Mädchen reagieren meist mit Rückzug, mitunter auch aggressiv. Oft geraten sie in eine Spirale der Gewalt: „Wer als Kind Gewalt n der Familie erlebt, hat ein erhöhtes Risiko, später als Erwachsene selbst auszuüben oder zu erleiden, sagt so Wieninger. Um Mädchen in schwieriger Situation Hilfe zu geben, ist Imma dabei, gemeinsam mit Jugendamt und anderen Stellen den „proaktiven Ansatz“ für Kinder in München zu etablieren. „Wir bieten Erste Hilfe an“, sagt Wieninger. Möglich wird das durch Zusammenarbeit mit Polizei und Jugendamt. Dabei erhält das Amt Nachricht, wenn die Polizei wegen häuslicher Gewalt gerufen wird und Kinder im Haushalt lebe. Das ermöglicht, Fachdienste wie Imma einzuschalten, die auf Frauen und Mädchen zugehen, um Hilfe anzubieten. Denn betroffene schaffen es trotz eskalierender Gewalt meist sehr lange nicht, eine Beratungsstelle aufzusuchen, wie Imma sie bietet. Seit 1992 haben dort 3800 Mädchen Rat, Informationen oder Therapie erhalten. Um die Verbesserung der Lebenssituation von Mädchen und junge Frauen kümmert sich Imma schon seit 25 Jahren. Bürgermeisterin Christine Strobl lobt den fachlich qualifizierten und parteilichen Einsatz der 70 Mitarbeiterinnen. Als politisch engagierte Fachfrauen und Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Hanne Güntner und Tina Kühne den Verein Imma im Juli 1985 als „ Initiative Münchener Mädchenarbeit“ gründeten, war die Jugendhilfe sehr stark auf die Lebenssituation von Jungen ausgerichtet. Imma richtete 1987 eine Zufluchtstelle für Mädchen ein, die seitdem 1350 Mädchen in Obhut nahm und vorübergehend außerhalb der Familie untergebracht hat. Imma begann, Themen wie sexuellen Missbrauch und Gewalt in der Familieöffentlich zu machen. „Vor 25 Jahren konnte niemand vorstellen, dass es das gibt in der Familie“, sagt Wieninger, die seit 2005 bei Imma ist und zuvor zehn Jahren bei Frauennotruf gearbeitet hat. Erst der Bruch des Tabus habe Hilfe für die Opfer ermöglicht. Seriösen Schätzungen zufolge sei jedes vierte bis fünfte Mädchen von Missbrauch betroffen. Inzwischen richtet sich der Blick auch verstärkt auf häusliche Gewalt. Immer noch zeige sich, dass die Nöte der Mädchen später wahrgenommen werden, als die Jungen. Die von Imma gegründete Kontakt und Informationsstelle für Mädchenarbeit leistet da Aufklärungsarbeit und konnte

14 300 Fachkräfte qualifizieren. Dass die Probleme der Mädchen übersehen werden, hängt damit zusammen, wie sie auf erlittene Gewalt reagieren: Bei ihnen treten Ängste auf, sie werden häufig depressiv, beginnen, sich selbst zu verletzen, „sich zu ritzen“, wie Wieninger sagt. Die Jungen dagegen gehen „eher in die Aggression gegen andere“ und fallen damit auf. Der Hilfebedarf von Mädchen werde oft erst viel später erkannt als bei Jungen. So bleibt es weiter das Ziel von Imma, „Mädchenraum und Schutzraum zu geben“.